WEBER, WALDEMAR

   

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MIR träumt ich schlafe
und höre im Schlaf das Telefon klingeln
unaufhörlich und lang ...
mir träumt ich wache auf
und lange danach mit der Hand
kann es nicht greifen
strenge mich an
ein wenig näher
noch näher ...
das ist doch genau der Anruf
der mir alles erklären soll
ich lange und lange danach
und mir träumt
ich werde ihn nie bekommen ...

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WIRF die Münzen nicht in den Brunnen
Ob Glück oder Unglück
dem Lebenden ist nicht empfohlen
in das Erlebte zurückzukehren
Nichts findest du dort
außer Dingen
denen die Seele davongeflogen
außer abgeworfener Haut

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DRAUSSEN auf der Straße
liegt im Schnee
der verlorene Schlüssel zur Kindheit
pfeift Tag und Nacht im Wind
Ich suche und suche
kann ihn nicht finden
er pfeift mir von überallher

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IN jenem russischen Tiefland
erreichten uns keine Nachrichten
wir legten unser Ohr an die Bahnschienen
an die Mauer des zerstörten Klosters
und hörten und hörten

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SCHULHEFTE mit schlechten Noten
vergrub ich im Schnee
wollte die Eltern nicht traurig machen
Im April tauten sie auf
Frühlingsbäche trugen sie an unsere Schwelle ...
Auf die Seiten mit verwischten Buchstaben und Ziffern
schaute der Vater nachdenklich und wehmütig
wie in eine alte Schrift

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DER schwarze Rabe* ist gekommen
flüsterten bei Nacht meine Eltern
als man den Nachbarn holte
Ich lag im Dunkeln
konnte es nicht fassen
warum „gekommen“
und nicht „geflogen“...
der Rabe hat es wohl verlernt zu fliegen ...
Es war verboten
aber ich schlich zum Fenster
stand auf Zehenspitzen
schaute und schaute in das Rabendunkel
* Dienstfahrzeug des NKWD

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HOFFNUNG
Ein Echo von Schüssen
irgendwo dort
in einem Gefängnishof
am andern Ufer
hinter den Bergen
jenseits des Meeres
irgendwo dort
Womöglich hat man uns vergessen
ist vorbeigelaufen
war in Eile

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DAUERREGEN
daß es zur Sintflut käme
in der unsere Schande ertränke
und vergessen wäre
wir aber alle
wir alle
uns retteten

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DU fragst
wie es war
Ein Volkslauf
mit Hürden aus Stacheldraht
ohne Ziel
ohne Lust zu überholen
ohne die Möglichkeit aufzugeben

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TRÜMMER des Dritten Rom
Der Ruch von Fäule und Rauch
weht auf den Plätzen
in kalter Luft
Der Ruf der Wölfin durchdringt
die verwüsteten Tiefen der Stadt
Es schaudert die Zerstörer
und ihre Söhne
sie können sich nicht erklären
woher er kommt
dieser Ruf
halten ihn für das Heulen
des Konvois von Hunden

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ÜBERLEBENSGEBOTE
Wechsle Worte und Orte
Sieh über alles hinweg
Nimm dir nichts zu Herzen
Laß nichts in dich hinein
Sprich über das Wetter
Rede über die Sonne
Lobe den Tag
Hab mehr als fünf Sinne

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PROMINENTENFRIEDHOF in Moskau
wo Schulter an Schulter
die Henker
die Opfer
Wie die Männer
auf Bänken im Schnee
am Boulevard Domino spielen
miteinander reden
ahnungslos
ohne Gram
ohne Groll
Zahnlose Welt
keine Ehrenzeichen
keine Handschellenspuren
Friedliche Koexistenz

Waldemar Weber Verlag